Rache ist bitter
Ein simpler Mord war ihr zu wenig. Er sollte
leiden für das, was er ihr angetan hatte. Und er sollte die Hilflosigkeit und
Verzweiflung erleben, die sie durchgestanden hatte. Plötzlich erwachte Anne
aus ihrem neuen Krimi als sie das Quietschen der Bremsen hörte. Das Bild vor
ihren Augen wurde schärfer und sie las das Schild mit der Aufschrift „Bahnhof
Hagen". Hastig tippte sie ein paar letzte Gedanken in ihren Laptop und klappte
ihn dann zu. Dann nahm sie eilig ihre Tasche aus dem Gepäcknetz und verließ
den Zug.
Sie schaute auf die Uhr während sie in ein
Taxi stieg und dem Fahrer ihre Adresse nannte. Zwanzig nach acht. Seitdem Mark
Immobilienmakler war, fuhr er gewöhnlich nie vor neun ins Büro. Anne schaute
aus dem Fenster. Es war strahlend blauer Himmel und die Frühlingssonne wärmte
bereits so, daß sie ihre Ärmel hochschob. Sie stellte sich Mark´s Gesicht vor,
wenn sie ihn einen Tag früher als geplant überraschen würde. Und wenn sie ihm
sagte, daß sie endlich schwanger war.
Das Taxi bog in die Goethestraße ab und blieb
vor der wunderschönen alten Jugendstilvilla stehen. Anne bezahlte und näherte
sich schnellen Schrittes dem Haus. Als sie in ihrer Jeans nach dem Schlüssel
suchte, bemerkte sie, daß der kleine, rosa Mandelbaum bereits blühte. Sie atmete
tief den geliebten Blütenduft ein. Willkommen Frühling, willkommen zu Hause.
Anne öffnete die Haustür und ging in ihr Arbeitszimmer, um ihre Reisetasche
und den Laptop abzustellen. Dann schlich sie durch den langen Flur in die Küche
und ging zu dem Küchenfenster, das den Blick auf den Hof freigab. Mark´s alter
Jaguar stand vertraut auf seinem Platz unter der alten Linde. Dahinter stand
ihr violettes Cabrio.
Sie blieb kurz stehen
und lauschte der Stille des riesigen Hauses. Leise ging sie die große Marmortreppe
hoch und näherte sich der Schlafzimmertür. Ein angenehmes Gefühl überkam sie,
als sie sich vorstellte, ihn zu wecken. Vorsichtig drückte sie den glänzenden
Messinggriff herunter und öffnete die Tür. Einen
Augenblick konnte sie nicht realisieren, was sie sah. Sie hielt den Atem an
und drückte sich eine Hand auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Gleichzeitig
durchfuhr ein Schlag ihren Körper und setzte sich wie ein brennendes Feuer in
ihrer Magengegend nieder. Dabei starrte sie weiter auf das Bett, unfähig sich
zu bewegen oder den Blick abzuwenden.
Mark lag schlafend
in seinem Bett. Sein Atem war ruhig, sein Gesichtsausdruck entspannt. Ein Arm
lag ausgestreckt neben seinem Körper. In dem anderen lag ein junges Mädchen.
Sie hatte blonde, halblange zerzauste Haare und einen zufriedenen kindlichen
Gesichtsausdruck. Sie war höchstens achtzehn. Die Bettdecke verbarg nur die
Beine ihres jugendlichen sonnengebräunten Körpers. Ihre Augen waren geschlossen
und an der gleichmäßigen Bewegung ihres üppigen Busens konnte Anne erkennen,
das sie zufrieden schlief. Auf ihrem Nachtschrank standen eine leere Champagnerflasche
und zwei halbvolle Gläser. Ein roter Spitzen-BH, ein winziger Slip und ein dünnes,
kurzes Sommerkleid lagen auf dem Fußboden verteilt.
Apathisch schloß
Anne leise die Tür, ging wie im Rausch die Treppe herunter und verließ das Haus.
Vor dem blühenden Mandelbaum, der sie vor einigen Minuten willkommen geheißen
hatte, blieb sie kurz stehen und atmete tief ein und aus. Sie versuchte sich,
zu konzentrieren, aber ihr Herz schlug bis zum Hals und sie war nicht fähig,
einen klaren Gedanken zu fassen. Dann rannte sie einfach los.
Sie rannte in
den nahegelegenen Park und blieb erst stehn, als sie keine Luft mehr bekam.
Dann ließ sie sich auf eine Bank fallen, verbarg ihr Gesicht in den Händen und
schloß die Augen. Ihr Gedanken drehten sich im Kreis und verzweifelt versuchte
sie das Karussel anzuhalten. Sie atmete tief und gleichmäßig, um ihre Herz-
und Seitenstiche zu bekämpfen. Lange
saß sie mit geschlossenen Augen da und versuchte sich zu beruhigen. Nach einiger
Zeit lehnte sie sich zurück und als ihr Puls wieder gleichmäßiger schlug, kehrte
sie allmählich in die Realität zurück. Langsam, ganz langsam wurde ihr klar,
was sie eben erlebt hatte. Ihre letzten Jahre liefen im Schnelldurchlauf vor
ihren geschlossenen Augen ab und zahlreiche Fragen fingen an sie zu quälen.
Ihre Gedanken kreisten wild um ihr ganzes Leben. Es war zerstört. Innerhalb
von wenigen Minuten. Kein strahlender Mark, der sie glücklich in die Arme schloß.
Kein fröhliches Kinderlachen. Kein Leben zu dritt. Sie
wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und merkte, daß ihre Lippe blutete,
aber sie empfand keinen Schmerz. Langsam aber sicher spürte sie, wie das Gefühl
der Verzweiflung dem der Rachgier wich. Bilder, wie sie beide mit dem Brotmesser
erstach oder Mark eigenhändig erwürgte, erhellten kurzfristig ihr Bewußtsein
und verschwanden wieder. Es wurde ihr immer klarer. Sie wollte Rache. Das einzige,
was ihren Schmerz lindern würde, war Rache.
Sie fragte sich,
was das schlimmste war, das man einem Menschen antun konnte. Ja, das hatte sie
jetzt erfahren. Man mußte ihm das liebste nehmen, was er hatte, seine Zukunft,
und seine Träume. Man mußte sein Vertrauen mißbrauchen und ihn auf´s Äußerste
erniedrigen.
AIs Anne ihre Augen wieder öffnete und einige
Zeit ins Leere starrte, vermischten sich ihre Gedanken mit ihrem neuen Krimi.
Und auf einmal erkannte sie die Ähnlickeit zwischen ihrer Geschichte und der
Realität. Kurze Zeit später stand sie auf und verließ den Park.
Als sie zu Hause ankam, war Marks Auto bereits
verschwunden. Anne betrat das Haus wie eine Fremde. Sie ging an der geöffneten
Schlafzimmertür mit dem frisch gemachten Bett vorbei. Sämtliche Spuren waren
beseitigt. Ein kalter Schauer jagte ihr über die Haut und Fragen über Fragen,
die unbeantwortet bleiben würden, schossen ihr durch den Kopf.
Anne ging in ihr Arbeitszimmer und schrieb einen
Brief an Mark. Einen Brief, der eines Tages in einer Polizeiakte abgeheftet
sein würde. Sie zerknüllte ihn, warf ihn in den Papierkorb unter Mark´s Schreibtisch
und blickte auf die Uhr. Es war bereits halb zwölf. Sie ging zum Telefon und
wählte Mark´s Nummer. Es klingelte dreimal und er war am Apparat.
„Hallo Mark, ich bin´s" sagte sie tonlos.
„Anne! Wie geht es Dir? Wann kommst Du nach Hause?"
„Ich bin schon zu Hause" erwiderte sie ohne Gefühle
zu zeigen. Sie hörte, wie er durchatmete.
„Wann, wann bist Du nach Hause gekommen?" fragte
Mark unsicher.
„Gerade" sagte Anne mit fester Stimme.
„Ich habe die Jacke noch an. Es hat schneller
geklappt als ich dachte in München."
„Anne, Du hörst Dich so eigenartig an. Ist etwas
passiert?"
Anne schwieg eine Augenblick und atmete durch. Dann wurde ihre Stimme freundlicher.
„Ich muß mit Dir sprechen, Mark. Können wir uns
sehen?"
„In einer Stunde in der Pizzeria?"
„Nein, laß uns bitte zu Bill gehen, ja? Es ist
so schönes Wetter. Und gib mir bitte zwei Stunden."
„OK, Liebling. Ich freue mich."
Anne legte auf und wählte erneut. Der nächste Teil ihres Planes war Rita. Sie
sollte die wichtigste Zeugin werden und das Motiv bestätigen. Überzeugend erklärte
Anne ihrer Freundin eine Geschichte, die keine Fragen offen ließ. Es dauerte
eine Zeit lang bis Rita alles geschluckt hatte. Dann legte Anne zufrieden auf.
Der Brief in Mark's Papierkorb würde Rita´s Aussage später bestätigen. Sie blickte
auf die Uhr und sah, daß ihr nur noch eine Stunde für die restlichen Vorbereitungen
blieb.
Als Anne alles
erledigt hatte, verließ sie das Haus und während sie mit ihrem Wagen über das
Kopfsteinpflaster vom Hof fuhr, stand die alte pompöse Villa, in der sie die
glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht hatte, in der Mittagssonne. Sie schaute
auf den blühenden Mandelbaum und fragte sich nach ihrem Gefühl. Sie hatte keins.
Keins außer Haß.
Die Fahrt in
die Altstadt erlebte sie wie in Trance. Häuser, Menschen und Autos zogen an
ihr vorüber, als sei alles nur ein Traum. Sie fuhr in die Stadt und kaufte noch
einige Dinge, die sie für ihren Plan benötigte. Dann parkte sie direkt vor dem
einzigen Hochhaus in diesem Stadtteil und fuhr mit dem Aufzug auf die Dachterasse.
Wie erwartet war das Cafe bei diesem Wetter sehr belebt. Anne setzte sich an
einen freien Ecktisch mit der Aussicht über die ganze Stadt. Sie bestellte einen
Kaffee und legte ihre Arme auf das Geländer, um ihren Kopf aufstützen zu können.
Sie sah runter auf die Straße und beobachte die winzigen Menschen, die alle
die Kraft des jungen Frühlings tankten. Eine Frau beugte sich in ihren Kinderwagen
und Anne´s Blick verlor sich in der Ferne.
Sie zuckte zusammen
als jemand seine Arme von hinten um ihren Bauch legte und sie zärtlich auf den
Hals küßte. Sie drehte sich um und sah in Mark´s braune Augen. Er hockte hinter
ihrem Stuhl und strahlte sie an. Es hätte alles so schön werden können. Mark
wollte sie umarmen, aber sie drückte ihn zurück. Sie stand auf, lehnte sich
an das Geländer und schaute ihm tief in die Augen. Er sah sie verwirrt an und
sagte:
„Anne, was ist los mit Dir?"
„Ich bin schwanger, Mark!"
Seine Gesichtszüge veränderten sich schlagartig in ein glückliches Lächeln und
er wollte sie in den Arm nehmen. Ein Kind war seit Jahren sein sehnlichster
Wunsch.
„Liebling, das ist ja wunderbar."
„Ja," lächelte sie zurück
„aber das Kind ist nicht von Dir. Ich habe einen
anderen, schon seit Monaten. Und ich werde Dich verlassen Mark!"
Er wollte etwas sagen, aber Anne konnte nur ein
zusammenhangloses Stottern vernehmen. Noch bevor Mark richtig antworten konnte,
legte Anne ihre Hände auf seine Brust als wolle sie ihn wegstoßen und schrie
panisch: „Nein, Mark tu das nicht". Als alle anderen Gäste zu ihnen rüber schauten,
rief sie laut um Hilfe. Dabei krallte sie sich an Mark´s Oberkörper fest als
wolle er sie hinunter stoßen und sie versuchte sich verzweifelt festzuhalten.
Der völlig schockierte Mark ließ alles wie eine Gummipuppe geschehen. Erst als
zwei Männer vom Nachbartisch ihn packten und zurückzogen, schrie er panisch:
„Was soll das? Was ist hier los, Anne?"
Jemand rief: "Los rufen Sie die Polizei" und Mark schrie weiter ihren Namen.
Anne hörte ihn noch schreien, als sie fluchtartig durch das Cafe rannte und
im Aufzug verschwand.
Sie fuhr eilig nach
Hause, wechselte ihre Kleidung, schminkte sich hastig und nahm die schwarze
Perücke aus ihrer Einkauftstüte. Sie setzte sie auf und schaute in den Spiegel.
Perfekt - niemand würde sie so erkennen.
Dann eilte Anne in ihr Arbeitszimmer und nahm
die gepackte Tasche, die die wichtigsten Dinge für den letzten Teil ihres Planes
enthielt. Marks gesamtes Schwarzgeld der letzten Jahre, das der Grundstock für
ihr Häuschen an der spanischen Küste sein sollte, die Diskette mit ihrem neuen
Buch und einige Kleidungsstücke. Dann verwischte sie alle Spuren, ging zum Telefon
und wählte Rita´s Nummer.
„Hallo?"
„Rita? Ich habe ihm alles erzählt. Er hat versucht,
mich umzubringen. Er ist völlig durchgedreht."
„Anne, wo bist Du jetzt? Und wo ist Mark?"
„Ich bin zu Hause, ich habe eine Tasche gepackt,
um zu Dir zu kommen. Und Mark kann jeden Augenblick kommen."
„Dann beeil Dich."
„Ich komme jetzt" sagte Anne hastig und legte
auf.
Sie wartete bis Mark auf den Hof fuhr, wählte dann
die 110 und flüsterte hektisch in den Hörer:
„Bitte kommen Sie schnell. Mein Mann will mich
umbringen. Mein Name ist Anne Schwei.." Sie schnitt sich selbst das Wort ab,
als hätte ihr jemand den Mund zugehalten.
„Wie ist ihr Nachname? Wo wohnen sie?
Anne wurde laut und hysterisch:
„Nein, Mark tu das nicht. Hilfeeee". Mitten im
Wort legte sie auf. Es würde eine zeitlang dauern, bis die Polizei käme. Mark
hatte genug Zeit, sie umzubringen und wegzuschaffen. Sie wartete bis er die
Haustür öffnete und schlich sich dann durch den Kellerausgang aus dem Haus.
Sie hörte, wie er sie rief, verzweifelt und zornig.
Schnellen Schrittes
schlug Anne den Weg zum Bahnhof ein. Zwei Stunden später saß sie im Zug Richtung
Straßbourg und war in Gedanken bei Mark. Sie sah ihn im Haus umher laufen und
hörte ihn ihren Namen rufen: „Annneee? Anneee, wo bist Du?" Nein, es gab jetzt
keine Anne Schweitzer mehr. Die war getötet worden und verschwunden. Dafür würde
in Spanien bald eine Frau ein neues Leben beginnen....