Von kippelnden Stühlen
oder
Warum Stühle kippeln gefährlich sein kann...
"Max, hör auf mit dem Stuhl zu kipp..."
"Rums" machte Max Müller mit seinem Kinderstuhl einen Satz rückwärts,
so dass sein Teller mit Spinat an der Wand und er selbst im Zeitungsständer
landete. Sein Vater sprang hinter seiner Zeitung auf, rannte fluchend aus dem
Zimmer und knallte die Tür derart heftig hinter sich zu, dass sie fast
aus dem Angeln flog. Die Katze, die neben dem Zeitungsständer im Körbchen
gelegen hatte, ergriff die lebensrettende Maßnahme und sprang auf die
Eckbank, auf der Änne Müller sitzend, den Kopf auf die Brust gelegt,
ihren Mittagsschlaf verrichtete. Sie öffnete die Augen, fasste sich ans
Herz und kippte von der Bank. Nicht ohne die chinesische Vase mitzureißen,
die in unzählige Scherben zersprang und eine kleine Tüte mit weißem
Pulver zum Vorschein brachte.
Max Mutter starrte auf die Tüte während sie schwer atmend in der Küchenschublade
nach ihrem Asthmaspray suchte und anstelle dessen in das Brotmesser fasste.
Max patschte grüne Muster auf die Tapete und niemand achtete auf den Aschenbecher
mit Vaters glühender Zigarette, der ebenfalls auf den Boden gefallen war
und die Gardine entzündet hatte.
Von unten klopfte der alter Herr Schmidt so fest mit dem Besenstiel unter die
Decke, dass ihm der Putz in die Augen bröselte, er kurz erblindete, über
den Couchtisch stolperte und vor die Wohnzimmertür rollte. Frau Schmidt,
die aufgrund des Krachs in Zimmer eilte, stolperte über seine Beine und
brach sich den linken Arm.
Tom, der älteste Sohn der Müllers kam von der Schule nach Hause, sah
von draußen Rauch, rannte die Treppe hoch und stürzte in die Wohnung.
Mit einem Blick versuchte er das Chaos zu erfassen, stieg über seine Großmutter
und eilte zu den Scherben als ihm von hinten gleichzeitig eine Tüte mit
weißem Pulver vor die Augen gehalten wurde und ein Tritt in den Hintern
überraschte. Draußen hörte man das Martinshorn. Mit einem Griff
war die Tüte sein, er rannte die Treppe wieder herunter. Vor der Tür
stieß er mit einem Feuerwehrmann zusammen, geriet ins Wanken und stolperte
über den Schlauch, den zwei andere Männer trugen. Mit einem Satz landete
er auf der Straße. Autos hupten, bremsten dann knallte es. Einmal, zweimal,
dreimal. Es nahm kein Ende. Tom blickte entlang der Autoschlange zerbeulter
Autos und rannte los.
In einem der Autos, das dem Vordermann aufgefahren und kurz darauf einen Schlag
von hinten erhalten hatte, saß Dr. Almani. Er blickte hektisch auf seine
Armbanduhr und sagte zu dem Taxifahrer: "Ich muss um halb zwei in der Uniklinik
sein. Ich habe eine wichtig OP." Der Taxifahrer lehnte sich gelassen zurück
und steckte sich eine Zigarette an. Dr. Almani sprang aus dem Auto und rannte
entlang der zerbeulten Autos, um sich ein Bild von dem Chaos zu machen. Das
Ende der Schlange war nicht in Sicht. Er blickte wieder auf die Uhr. Er hatte
seit 23 Jahren das erste Mal verschlafen, ausgerechnet heute vor der Beinamputation
von Francoise Michelle. Er nahm sein Handy aus der Tasche und wählte die
Nummer der Uniklinik.
Kurz darauf kletterte im OP der Uniklinik der wohlhabende Francoise Michelle
vom Operationstisch und humpelte aus dem Raum. "Vergessens Sie´s,
ich habe gesagt, ich lasse mich ausschließlich von Dr. Almani operieren.
Das wird ein Nachspiel für sie haben." Nachdem die Überredungskunst
sämtlicher Ärzte fehlgeschlagen war, wurde der nächste Patient,
eine Blinddarmentfernung, für die Operation vorbereitet und kurz darauf
anästhesiert.
Derweil war Dr. Almani in eine Seitenstraße gerannt und hatte ein neues
Taxi gefunden, das ihn zur Klinik brachte. Mit grüner Kleidung, Mundschutz
und Haube betrat er wenige Augenblicke später den OP. Das Personal, mit
den letzten Vorbereitungen beschäftigt und auf den Vertretungsarzt wartend,
nahm den Arzt zur Kenntnis und machte sich an seine Arbeit.
Niemand bemerkte die Verwechselung, nicht einmal als die große Säge
ihre durch den gesunden Knochen fraß.
Nach der OP stieß Dr. Almani auf dem Flur mit Francoise Michelle zusammen
und blickte während er bleich wie die Krankenhauswand wurde auf seine beiden
Beine. Ohne auf das Erstaunen des Patienten zu achten, lief er zurück in
den OP, blickte erst dem Patienten ins Gesicht und dann in die Krankenakte.
Dann entfuhr ein heiserer Aufschrei seiner Kehle und er rannte aus der Klinik
zu dem daneben gelegenen Bahnhof und warf sich vor den nächsten Zug auf
die Schienen.
Der Zug kam rechtzeitig zum Stehen, die Notbremsung hatte allerdings zur Folge,
dass Mensch und Gepäck wie Popcorn in der Pfanne durcheinander flogen.
Ein älterer Herr erbrach sich und sein Gebiss auf das frisch gestärkte
Dirndl seines Gegenübers und erhielt dafür eine schallende Backpfeife.
Starmodell Heike Plump auf dem Weg zum Fotoshooting bekam von einem tieffliegenden
Beautycase ein Veilchen. Und zwei gleichaussehende Koffer wechselten ihre Besitzer.
So belieferte der Miederwarenverkäufer Müller sein Kaufhaus mit einem
Koffer voller Akten und der Rechtsanwalt Kranemann packte vor Gericht anstelle
der entlastenden Unterlagen einen Koffer gefüllt mit Damenstrümpfen
aus. Sein Klient verschwand für die nächsten Jahre wieder hinter Gittern.
Im dritten Wagon saßen Herr Schachtschneider, der durch eine von oben
kommende Dachbox ohnmächtig geworden war und seine hysterische Frau, die
ihm unaufhörlich ins Gesicht klatschte, so dass seine Wangen schon knallrot
waren. Sie erzählte unentwegt davon, dass ihr Gatte Bundestagsabgeordneter
und auf dem Weg nach Berlin sei. Einige Passanten, die unverletzt geblieben
waren und ihr Hab und Gut wieder in ihren Besitz gebracht hatten, hörten
Frau Schachtschneider interessiert zu.
Herrn Schachtschneider gegenüber saß eine alte Dame mit einem übermäßig
großen roten Hut und strickte einen Schal. Frau Schachtschneider sprach
von Beweismaterial in einem Spendenskandal, von obersten Köpfen, die rollen
würden und einem Machtwechsel, den nur ihr Mann in der Lage zu realisieren
sei. Während ihres nicht enden wollenden Wortschwalls betraten zwei Sanitäter
das Abteil und trugen Herrn Schachtschneider auf einer Trage aus dem Zug. Einige
Passanten liefen aufgeregt hin und her und kurz darauf waren sowohl der große
schwarze Aktenkoffer als auch die strickende Seniorin verschwunden. Frau Schachtschneider
fiel in Ohnmacht und so kamen erneut zwei Sanitäter und brachten nun auch
Frau Schachtschneider in ein Krankenhaus.
Zwei Tage später las man in sämtlichen Tageszeitungen von aufgedeckten
Spendenskandalen, TV-Sender prangerten Politiker in oberster Ebene an und kurz
darauf legte der Bundeskanzler sein Amt nieder.
Dr. Almani hatte überlebt, Tom Müller war reumütig nach Hause
zurück gekehrt, seine Oma schlief mittags wieder auf der Eckback und Max
aß eine Woche später in einem frisch renoviertem Zimmer wieder Spinat.
Zur gleichen Zeit stieg eine ältere Dame mit einem großen roten Hut
in einen Flieger in die Karibik.