Die Erleuchtung
Entsetzt hielt sie in ihrer Bewegung inne und
starrte durch die Glasscheibe in das Großraumbüro. Das war unglaublich! Jetzt
saß dieser Turklebaum doch wahrhaftig auch schon am Samstag hier herum und hinderte
sie daran, ihre Arbeit zu tun. Die ganze Woche hatte sie um ihn herum saugen
müssen. Und das schlimmste war, daß er auf ihre Frage, ob sie seinen Schreibtisch
putzen solle, noch nicht einmal geantwortet hatte. Immer in das gleiche Formular
vor sich vertieft, das Gesicht von seinen zotteligen Locken verdeckt, hatte
er sie einfach ignoriert, dieser Sesselpfurzer! Früher hatte er wenigstens noch
gegrüßt. Aber so war das mit den feinen Pinkels, sich zu schade mit der Putzfrau
zu sprechen, aber im eigenen Dreck ersticken. Die Staubschicht auf seinem Tisch
wurde von Tag zu Tag dicker, so daß der alte Rand der halbvollen Kaffeetasse,
die seit Tagen da stand, schon langsam unter dem hellen Flaum verschwand. Eines
Tages würde man ihr noch nachsagen, daß sie ihre Arbeit nicht gründlich machte.
Sie putzte sich mit dem Zipfel ihres bunt geblümten Kittels über die Stirn und
schüttelte den Kopf. Ihre speckigen Wangen waren vor Zorn gerötet, als sie an
Donnerstag abend dachte. Wegen ihm hatte sie die ersten zwanzig Minuten vom
Glücksrad verpaßt. Sie hatte extra zwei Stunden später angefangen zu putzen,
in der Hoffnung, daß er dann endlich mal verschwunden sein würde. Und er saß
wie immer da. Dann hatte sie wegen ihm ihren Wochenendputz von Freitag auf Samstag
verlegt. Und jetzt saß er schon wieder da.
Als hätte sie einen unartigen Dackel zu bändigen, zog sie den störrischen Sauger
verbissen zur anderen Seite des Bürotraktes. Würde sie eben wieder dort beginnen.
Über den blöden Turklebaum würde sie sich nicht mehr ärgern. Aber wenn sie mit
den anderen 23 Schreibtischen fertig wäre, und er würde ihr immer noch im Weg
rumsitzen, dann könnte er was erleben. So ging das nicht. Und sie würde sich
am Montag im Personalbüro beschweren. Während sie forschen Schrittes mit ihrem
rollenden Gefährten im Schlepptau die meterlange Glasfront entlang stampfte,
flog ihr Blick über sämtliche Arbeitsplätze. Alle waren unbesetzt und mehr oder
wenig ordentlich verlassen. Er war immer der einzige Querulant. Er hatte noch
knapp zwei Stunden, um zu verschwinden. Dann würde sie ihm was erzählen. Bei
dem ersten Tisch im Büro blieb sie stehen und rollte den Stuhl beiseite. Er
gehörte diesem braungebrannten Adonis, dessen Haut von der Sonnenbank schon
ganz ausgemergelt war. Hier stank es noch lang nach Feierabend immer penetrant
nach Rasierwasser. Aber eines mußte man ihm lassen, sein Tisch war immer picobello.
Sie nahm den kleinen Bilderrahmen in die Hand und schaute auf die neue blonde
Schönheit. Er hatte fast jeden Monat das Foto einer anderen Frau eingerahmt
auf seinem Tisch stehen. Eigentlich
interessierte sie das ja nicht. Er war schon vier Mal geschieden, hatte sie
gehört. Aber der war ihr immer noch lieber als dieser blöde Turklebaum, der
kein zu Hause hatte.
Sie trat ihrem kleinen Vorwerk auf die Pfoten und er jaulte laut auf. Hin und
her, vor und zurück. Im Takt des monotonen Jaulens, geführt von ihrem Zorn war
sie heute noch schneller als sonst. In Gedanken bei dem jeweiligen Angestellten
entfernte sie Spuren des Arbeitstages manchmal mehr, manchmal weniger schimpfend.
Langsam lockten sich ihre grauen kurzen Haare wieder, wie immer wenn sie schwitzte.
Bei dem langen Meier, der keinen Spaß verstand, war der Boden wie immer übersät
mit Brötchenkrümeln. Einmal hatte sie ihm freundlich gesagt: "Bei ihnen kann
man wirklich vom Boden essen, Herr Meier, es liegt immer genug herum". Dabei
hatte sie ihm auf die Schulter geklopft und schrill gelacht. Er hatte keine
Miene verzogen und weiter gekrümelt, dieser komische Vogel. Schwungvoll ließ
sie die Düse über den Teppich gleiten und der Sauger verschlang gierig die übrig
gebliebenen Krumen als hätte er seit Tagen nichts bekommen.
Der achte Tisch im Büro gehörte dem akkuraten Baumann mit dem komischen Toupet,
der zwei Straßen neben ihr wohnte. Der pflegte jeden Samstag sein Auto, das
er liebevoller behandelte als die meisten Menschen. Danach sorgte er stets dafür,
daß kein Hälmchen auf dem Rasen zu lang wird, während seine Frau das Klingelschild
putzte.
Einmal, es war schon ein paar Jahre her, hatte sie beim Entleeren seines kleinen
Reißwolfes eine ungeheuerliche Entdeckung gemacht. Wie meistens, wenn der Behälter
zu voll war, hingen die Streifen hier und dort noch aneinander, so daß einige
mit etwas Mühe wie ein Puzzle wieder zusammengesetzt werden konnten. Über eine
Stunde hatte sie die mühselige Arbeit gekostet, dann konnte sie erkennen, daß
es sich bei den farbigen Bildern um Schmuddelfotos handelte. Seitdem grinste
sie Baumann beim Grüßen immer an bis ihm die Röte ins Gesicht stieg und sie
wußte, daß er wußte, daß sie etwas wußte.
Sechs Tische vor Turklebaum konnte sie sehen, daß er immer noch da saß ohne
sich zu rühren. Sie legte eine kurze Pause ein und trat nach ihrem jaulenden
Begleiter, der schlagartig verstummte. Dann griff sie in ihre Kitteltasche und
zauberte, ohne den Blick von dem letzten Schreibtisch zu wenden, einen Schokoriegel
hervor. Wer wußte eigentlich, was der Turklebaum so alles las?! Vielleicht sollte
sie, wenn er endlich mal verschwinden würde, seine Schubladen mal von innen
gründlich säubern. Ein Tritt und ein kurzes Reißen an der Leine rief das störrische
Vieh wieder zum Gehorsam auf und weiter ging es zum nächsten Schreibtisch.
Der gehörte Hartig, einem ganz üblen Gesellen, der immer einen hellen Trenchcoat
trug. Er war vor einigen Jahren plötzlich verschwunden gewesen. Sie hatte sich
darüber geärgert, daß der Schreibtisch monatelang unbesetzt war und sie ihn
trotzdem putzen mußte. Dann eines Tages im Frühjahr saß er plötzlich wieder
da. Er sei wegen einem Bandscheibenvorfall so lange im Krankenhaus gewesen,
hatte er ihr gesagt. Die Schulze, ihre Kollegin aus der unteren Etage hatte
ihr dazu aber eine ganze andere Geschichte erzählt.
Jetzt waren es noch vier Tische bis Turklebaum, der immer noch wie in eine Wachsfigur
in seiner vertrauten Haltung verharrte. Sie hielt ihn jetzt dauerhaft im Blick.
Er hatte sich noch nicht mal zu ihr umgedreht. Ihr Sauger war wirklich laut
genug, da konnte er nicht einfach so tun, als hätte er sie nicht bemerkt. Es
war wirklich eine bodenlose Unverschämtheit mit diesem arroganten Kerl. Sie
öffnete den obersten Knopf ihres Kittels und wischte sich mit dem Handrücken
über die Stirn. Diese Ignoranz würde sie sich nicht länger bieten lassen! Sie
ließ den schreienden Schlauch einfach fallen, steckte ihre zitternden Hände
in ihre Kitteltaschen und machte sich auf den Weg. Sie würde ihm jetzt einfach
den kalten Kaffee über seinen hellen Anzug schütten. Den hatte er sowieso schon
die ganze Woche an, dieses Ferkel.
Dann plötzlich auf dem Weg zu ihm kam ihr dann die Erleuchtung. Abrupt blieb
sie stehen und schüttelte den Kopf. Er schlief. Ja sicher. Daß sie da nicht
eher drauf gekommen war. Niemand konnte so lange irgendwo sitzen ohne sich zu
bewegen. Unglaublich, da saß der Kerl da, pennte und ließ sich das auch noch
bezahlen während sie sich hier abrackerte. Wie lange wohl schon? Vielleicht
pennte der immer den ganzen Arbeitstag. Sein Schreibtisch sah seit Tagen gleich
aus. Das ging ja wohl zu weit.
Sie atmete einmal tief durch, ging zurück, brachte ihren nervenden Vorwerk zum
Schweigen und schlich mit ihm dem letzten Schreibtisch entgegen. Als die Räder
ihres altersschwachen Gefährtes leise ächzten, hob sie ihn behutsam auf den
Arm und klemmte ihn an ihren mächtigen Busen. So leise wie mit dem schweren
Biest eben möglich schlich sie hinter Turklebaums Tisch, steckte lautlos den
Stecker in die Dose und brachte die Düse des gierigen langen Halses in die unmittelbare
Nähe von Turklebaums Ohr. Der saß weiterhin dort, als bemerkte er nichts. So
einen gesunden Schlaf wollte sie auch mal haben. In diebischer Vorfreude hielt
sie den Atem an als sie den völlig unbereiteten kleinen grünen Korpus trat und
ihn zum Brüllen aufforderte. Sofort ertönte das vertraute saugende Geräusch
und mischte sich mit ihrem Gelächter. Ha, war das ein Spaß!
Nur Turklebaum fand es anscheinend nicht lustig. Von ihm hörte man nichts. Und
man konnte auch bei genauster Beobachtung keine Bewegung vernehmen. Ihr Lachen
erstickte und sie trat erneut zu. Der Sauger verstummte ebenfalls. Langsam wurde
sie wirklich sauer.
"Herr Turklebaum!" schrie sie den Bewegungslosen
zum Kampf auffordernd an. Keine Reaktion. Sie hielt ihren Mund an sein Ohr und
ihre hysterische Stimme durchbrach die Stille.
"Herr Turklebaum, das ist nicht lustig, wachen
sie endlich auf!" Nichts.
Blind vor Wut hoben ihre kräftigen Arme das glänzende Rohr des Saugers über
Turklebaums Kopf und setzten zum Schlag an als sich plötzlich ein absurder Gedanke
in ihr Bewußtsein drängte. Ein vertrautes Bild aus Kindertagen tauchte vor ihren
Augen auf. Sie hatte als Kind ihr Bett immer so hergerichtet, daß es so aussah,
als schliefe sie, während sie sich aus dem Haus schlich. Sollte dieser Turklebaum
eine Puppe hier sitzen haben? Vorsichtig beugte sie sich zu ihm herunter, um
ihn behutsam anzustupsen, als zunächst sein Kopf mit einem Schlag auf die Tischplatte
donnerte und er danach zusammengeklappt auf den Boden fiel und endlich den Blick
auf sein Gesicht freigab. Die Obduktion ergab, daß er bereits seit fünf Tagen
tot war.