Kalte Füße

Er stellte sich schlafend. Obwohl er ihr den Rücken zugewandt im Bett lag, roch er den herben, vertrauten Moschusduft als läge der andere mit im Bett. Der Geruch biss ihm in der Nase und nur schwerlich konnte er die Übelkeit unterdrücken.

Nein, er wollte sie einfach nicht mehr ertragen. Nicht ihre leisen Schritte. Nicht ihre vornehme Art, mit der sie sich bewegte, den Kater streichelte, ihr Mousse au chocolat aß. Und vor allem nicht ihre kalten Füße, die sie ihm jeden Abend unter der Bettdecke fordernd entgegenstreckte. Er wollte sie nicht mehr wärmen, begehren, ihnen verfallen. Er konnte ihr nicht verzeihen. Eigentlich wollte er, dass sie ging. Für immer aus seinem Leben verschwand. Und ihr silbernes Besteck und den getigerten Kater mit nahm. Und vor allem ihre kalten Füße.
Er konnte sich kaum an erotischere Momente in seinem Leben erinnern als an die, wenn sie sich ihm vorsichtig und zärtlich näherte, in dem..... Verdammt, er hasste diese Füße.
Der süße Duft von damals war verflogen, seine Gefühle verraucht und seine Liebe verschwunden. Verschwunden, seitdem sie diesen anderen Duft, den nach Moschus, mit ins Bett gebracht hatte. Sie sollte endlich auch verschwinden. Nein, sie konnte ihm nicht mehr gefährlich werden. Auch nicht ihre kleinen, runden, zärtlichen, kalten Füße.

*

15 Jahre später...
Seine Hand ist kalt und zittrig als er leise den Schlüssel in das Schloss steckt. Ein Geräusch lässt ihn zusammen zucken. Er blickt sich achtsam um, kann in der Dunkelheit aber nichts erkennen. Die Taschenlampe traut er sich noch nicht zu benutzen. Vorsichtig bewegt er den Schlüssel und nimmt erleichtert wahr, wie er sich im Schloß drehen lässt. Die Tür springt mit einem Satz auf, als fordere sie ihn auf, das Haus endlich wieder zu betreten und seine Arbeit zu beenden. Er tritt leise ein und schließt die Tür hinter sich. Für einen Augenblick ist es stockfinster um ihn herum. Die großen Eichen vor dem Haus lassen das fahle Licht des kargen Mondscheins nicht ins Innere dringen. Der Geruch ist modrig und feucht. Lange hat das Haus leer gestanden. Es riecht nach vergangen Zeiten. Und nach Tod. Er fröstelt und schaltet seine Taschenlampe an, richtete den Schein auf den staubigen Boden. Der Rucksack auf seinem Rücken wird ihm schwer, er versucht, das Gewicht zu verlagern.

Wie sehr hat er dieses fast 500 Jahre alte Fachwerkhaus damals geliebt. Aber es war ihm für einen Neuanfang nichts anderes übrig geblieben, als es zu verkaufen. Jetzt steht er wieder hier in diesem Zimmer, in dem er vor mehr als 15 Jahren ihre Füße liebkost, sie geliebt hatte. Und nun wird eines der beiden Haushälften ein Trauzimmer werden. Fast muss er lachen über soviel Ironie. Und in diesem, dem damals von ihm bewohnten Teil, wird der Heimatverein sich ausbreiten.

Aus der Zeitung hat er von Besitzerwechsel und bevorstehenden Renovierungsarbeiten erfahren; da war ihm bewusst geworden, dass viele Menschen hier ein- und ausgehen würden. Dass sie jeden Stein umdrehen, die alten Zeiten aufleben lassen und bearbeiten würden, vielleicht auch seine Vergangenheit. Dem muss er zuvor kommen.

Er leuchtet mit der Taschenlampe, um sich einen Weg zu schaffen. Die alte Lehmdecke ist hoch genug, aber er zieht dennoch seinen Kopf ein wenig ein. Wie gut, dass in all den Jahren niemand das Türschloss ausgetauscht hat, denkt er. Es riecht nach feuchtem Putz und Schmutz und das alte Holz knackt hier und dort. Trotz der Feuchtigkeit der Wände ist die Luft staubig, riecht nach Moder und Vergangenheit. Er schlurft mehr als dass er über den lehmigen Boden geht. Es ist kalt und klamm und ihn fröstelt, obwohl sein Gesicht glüht.

Nie hat er sie mehr geliebt, als zu der Zeit, da sie ihm alles gebeichtet hat. Ihr Vertrauen und der Mut zur Ehrlichkeit rühren ihn noch heute. Fast tat es ihm damals leid, ihren Schmerz darüber zu fühlen, dass sie von dem anderen verlassen wurde. Ja, in diesem Augenblick der Wahrheit hat er ihr verzeihen können. Auch wenn ihn der Gedanke noch heute quält, dass auch der andere ihre kalten Füße gewärmt hat.

Der Schein der Taschenlampe fällt auf einen morschen Querbalken in dem neuen Durchgang, der bislang von nicht mehr als einer einfachen Holzbrüstung umzäunt ist. Etwas winziges, kaum größer als die Steine und Lehmklumpen, die herumliegen, zieht ihn an. Die Balken zur Decke sind von Spinnweben umzogen und lange Staubfäden hängen herunter. Aber an dieser Stelle ist es eigenartig sauber. Er geht näher heran und entdeckt eine kleine mumifizierte Maus, die auf dem alten Holz sitzt als bewache sie das Haus. Unbewusst streckt er seine Hand aus, um sie zu berühren. Er hat das Gefühl, sie würde ihre winzigen, spitzen Zähne fletschen, ein seltsam leerer Blick geht von der Stelle aus, an der ihre Augen gesessen haben mussten. Er schaudert, dringt dann weiter ins Innere vor. Wie lange mag sie schon tot sein? Haben sie zur selben Zeit in diesem Haus gelebt? Weiß sie von seiner Geschichte?

Vorsichtig geht er so geräuschlos wie möglich, Schritt für Schritt durch das Haus, hält dabei die Taschenlampe mit gedämmtem Licht nach unten gerichtet. Größere Schäden sind bereits repariert worden, hier und dort stehen schon einige Kartons. Es wird Zeit für ihn.

Behutsam, fast ohne aufzutreten, steigt er die alte, knarrende Kellertreppe runter. Seine Finger sind kalt und feucht, als er sich an dem morschen Geländer festhält, Stufe für Stufe hinabsteigt, sein Gewicht nur langsam verlagert, zweifelnd, ob die Stufe ihn halten wird. Unten angekommen lässt er zittrig den Schein der Lampe durch den Keller gleiten. Die alte Wäschemangel steht noch an ihrem Platz, sieht genau so aus wie damals. Er versucht seine innere Unruhe zu beherrschen, aber je mehr er die Angst zu unterdrücken versucht, desto nervöser wird er. Er atmet einige Male tief durch, nimmt dann seinen Rucksack vom Rücken und stellt ihn leise vor sich hin. Schließlich geht er in die Hocke, öffnet den Reißverschluss so zögerlich, als könnte der Tasche ein wildes Tier entspringen. Grade, als er den hölzernen Stiel spürt, hört er, wie über ihm etwas laut knackt. Er hält in seiner Bewegung inne, schaltet mit angehaltenem Atem seine Taschenlampe aus.

Während er denkt, sein pochender Herzschlag könne ihn verraten, lauscht er in die Nacht und wartet. Die Minuten ziehen sich lang und seine Beine beginnen in der hockenden Haltung zu schmerzen. Dann nimmt er fast geräuschlos den Spaten aus der Tasche, schaltet die Lampe wieder an. Im gleichen Augenblick blitzt eine andere Taschenlampe auf. Abrupt dreht er sich in Richtung Treppe, hört Schritte und umklammert den hölzernen Griff des Spatens fester.

Er sieht zunächst nur ihre Füße. Und dann steht sie plötzlich vor ihm und starrt ihn an. Für den Bruchteil einer Sekunde bewegen sich beide nicht. Er hat das Gefühl, ihr kalter Atem vereist sein brennendes Gesicht. Und regungslos ersticht sie ihn mit ihrem Blick. Ihre Lippen beginnen zu beben und sie speit ihm die Worte ins Gesicht:
"Wie? Wie hast Du es getan?"
"Sophie, glaub mir, er hat nichts davon gemerkt. Ich musste..."
Sie schreit so markerschütternd, dass er zusammenzuckt.
"Wie hast Du es getan?"
"Ich, ich habe ihn erstochen, aber..."
Sie hält sich die Hände vors Gesicht und beginnt zu schluchzen. Er versucht vorsichtig ihre Schulter zu berühren, aber sie schlägt nach seiner Hand und gewinnt ihre Fassung zurück.
"Und dann hast Du ihn hier verscharrt wie ein Tier?"
Ihr stechender Blick erschüttert ihn mehr als ihre Worte. Er senkt seine Augen und schweigt.
"Wie hast Du ihn dazu gebracht diesen Brief zu schreiben?"
Er spricht leise.
"Mit einem Messer an der Kehle schreibt jeder alles."
Sophie schließt kurz ihre Augen und atmet tief durch.
"Bereust Du es?"
"Sophie, was soll das?!. Es ist 15 Jahre her."
"Erinnere mich nicht daran, dass ich 15 Jahre mit einem Mörder zusammen gelebt habe. Also, bereust Du es?"
Er schweigt.
"Für den Richter wird diese Frage von Bedeutung sein."
Er sieht sie an und erst jetzt wird ihm klar, dass er keine Zukunft mehr mit ihr hat. Dass sie ihn verraten wird. Er umgreift den Holzstiel seines Spatens fester und geht langsam auf sie zu. Sie blickt ihm beharrlich ins Gesicht und bewegt sich nicht von der Stelle.
"Und nun willst du auch mich umbringen und hier verscharren?"
"Was habe ich für eine Wahl. Wie bist du überhaupt dahinter gekommen?"
"Deine Unruhe, seitdem in der Zeitung stand, dass das Haus verkauft wurde. Die Suche nach dem Haustürschlüssel. Und, es ist für einen Mörder nicht gut, im Schlaf zu sprechen."
Er steht ihr jetzt gegenüber, umklammert den Spaten mit beiden Händen.
"Du hättest nicht herkommen sollen, Sophie."
Sie steckt eine Hand in ihre Jackentasche und bringt ein kleines Aufnahmegerät zum Vorschein.
"Und du hättest nicht so viel erzählen sollen."
Er beisst sich auf die Unterlippe, hebt den Spaten in die Höhe, während sie ihm unerbittlich ins Gesicht blickt.
"Jetzt" ruft sie "jetzt"
und gleichzeitig leuchten einige weitere, hellere Taschenlampen auf und drei Polizisten springen die Kellertreppe hinunter und strecken ihm den Lauf ihrer Pistolen entgegen.